von Christoph Fleischmann vom 27.05.2022

In den Niederlanden gibt es über 40 selbstständige katholische Gemeinden. Ein Besuch mit der Frage, ob solche Gemeinden auch in Deutschland möglich wären.

Wie eine Schulaula wirkt der Kirchraum der Boskapel in Nijmegen: Die praktischen Holzstühle im gestuften Auditorium, eine Holzvertäfelung an der Wand des Chorraumes. In deren Mitte eine große weiße Leinwand, auf die Liedtexte projiziert werden. Schlicht, praktisch, weltlich ist der Raum, der sich dennoch als Kirche zu erkennen gibt: Das Kreuz in der weißen Leinwand, der Altar mit der schwebenden Glasplatte und der Osterkerze daneben; der Pfarrer in weißer Albe mit bunter Stola. Ein kleiner Chor, begleitet von Klavier, Kontrabass und Geige, füllt den Raum mit den modernen geistlichen Liedern von Huub Oosterhuis, schlicht und doch spirituell wie der Raum.

Die Gemeinde des Stadtklosters Mariken, die hier am Sonntagmorgen Gottesdienst feiert, ist katholisch, aber unabhängig vom Ortsbischof und damit von der römischen Kirche. Der Pastor liest das Evangelium, die Predigt ist nah am Bibeltext und kurz. Es fühlt sich an wie ein normaler katholischer Gottesdienst, sogar Weihrauch wird geschwenkt. Nur beim Abendmahl singen alle mit einem Oosterhuis-Lied die Einsetzungsworte. Und erst später fällt auf: Ein Glaubensbekenntnis haben wir nicht gesprochen.

Muss man sich wegen dieser kleinen Änderungen in der Liturgie von der katholischen Kirche trennen? Beim Kirchkaffee stellt sich heraus, dass diese Frage falsch gestellt ist: Erstens sind die Lieder des aus der Kirche ausgetretenen Theologen und Dichters Huub Oosterhuis nichts Nebensächliches; die Menschen in der Boskapel nehmen sie als wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu anderen Gottesdiensten wahr: »Hier gibt es Musik ohne Orgel«, nennt eine Frau den Grund, warum sie in die Boskapel kommt. Und die Lieder von Oosterhuis sind ein Politikum: Die offiziellen Liturgievorschläge des Bistums würden seine Lieder ausschließen, erklärt Pastor Ekkehard Muth. In der Tat überschreiten die Lieder- und Gebetstexte von Oosterhuis einen rein christlichen Horizont und sind auch offen für Andersgläubige.

Aber zum anderen ist die Frage nach der Trennung auch deswegen falsch gestellt, weil gar nicht ausgemacht ist, wer sich von wem getrennt hat. »Katholiken gehen nicht weg«, erklärt ein Mann beim Kirchkaffee, und die meisten pflichten ihm bei, dass man immer noch katholisch sei, vielleicht nicht mehr römisch, eher so etwas wie eine »liberale Fortsetzung«, man sei eben »christlich«. Auch die Geschichte der Boskapel erzählt vom Beharren, nicht vom Trennen: Die Kapelle gehörte zum Augustinerkloster und war nach dem zweiten Vatikanum als einer von sieben offiziellen Experimentierplätzen der holländischen Bischofskonferenz ausgewählt worden: Hier sollte mit der Liturgie in der Muttersprache Neues ausprobiert werden, erklärt Muth. Aber als der letzte Augustiner 2009 aus dem Kloster auszog, sollte sich die Gemeinde, die dort entstanden war, nach dem Willen des damaligen Bischofs von ’s-Hertogenbosch auflösen und ihre Mitglieder sich den zuständigen Ortsgemeinden anschließen. Aber die Gemeinde wollte ihre Freiheit nicht aufgeben und weiterhin da sein für Menschen, die nicht in die kirchlichen Regeln passten, wie Homosexuelle, Transgender, Wiederverheiratete oder Ungetaufte, erzählt Muth. Und so gründete man eine Stiftung, die einen Geistlichen finanzieren kann. Die in den 1960er-Jahren gebaute Boskapel war zwar an eine evangelische Gemeinde verkauft worden, aber von der konnte die alte Boskapel-Gemeinde, die sich inzwischen Stadtkloster Mariken nennt, die Räume für die Gottesdienstfeier zurückmieten.

 

Der emeritierte Theologieprofessor Hermann Häring hat in Nijmegen an der Uni gelehrt und kennt die Boskapel. Er hat beobachtet, dass die Katholiken in den Niederlanden »republikanischer« gesinnt seien. Die innere Abhängigkeit vom Bischof sei geringer als in Deutschland, meint er. »Auch die niederländischen Katholiken sind Calvinisten«, scherzt er; das heißt, sie wollen weder faule Kompromisse eingehen noch etwas Verbotenes heimlich tun in der Hoffnung, dass es die Oberen nicht sehen. Man lege Wert darauf, ehrlich zu sein, so Häring.

Pastor Ekkehard Muth ist ein evangelischer Theologe: Für einen katholischen Theologen wäre es schwer geworden, die Stelle bei der freien Gemeinde anzutreten, erklärt Muth, weil der dann nicht mehr zur Anstellung in die katholische Kirche zurückkönne. Das bestätigt auch Franneke Hoeks. Sie ist Pastorin der San Salvator Glaubensgemeinschaft in ’s-Hertogenbosch, rund 40 Kilometer von Nijmegen entfernt. In der offiziellen katholischen Kirche könne sie nicht mehr arbeiten, erklärt die katholische Theologin, die seit sieben Jahren als Vollzeitkraft für die selbstständige Gemeinde im Ortsteil Orthen arbeitet. Die Gemeinde hat sich 2011 im Konflikt vom Bischof getrennt. Auch hier gab es seit den 1960er-Jahren liturgische »Experimente«: Gemeindeglieder mit theologischer Ausbildung hätten hinter dem Altar gestanden, erzählt Frans Langemeijer vom Vorstand der Gemeinde, es sei eine sehr aktive Pfarrei gewesen in einem Ortsteil mit einem gewissen Lokalstolz. Aber unter dem vorigen Bischof sollte der progressive Kurs beendet werden, und der Weihbischof wurde als Priester für die Gemeinde ernannt. Als der in Orthen anfangen wollte, zogen rund 600 Leute singend aus der Kirche aus, erzählt Langemeijer mit glänzenden Augen, und gingen ins Tageszentrum einer Behindertenhilfe. Im Foyer dieser Einrichtung unter einer pyramidenförmigen Kuppel feiert die Gemeinde noch heute sonntags ihren Gottesdienst.

 

Während in Nijmegen meistens Pastor Muth die Gottesdienste hält, hat Pastorin Hoeks in Orthen sechs weitere ehrenamtliche Gottesdienstleiter zur Seite. Hier werden neue geistliche Lieder, aber auch alte Choräle gesungen, begleitet von Klavier und Querflöte. Dass hier ein Mann ohne liturgisches Gewand den Gottesdienst leitet, fällt auf. Das eucharistische Gebet ist modern, enthält aber die Einsetzungsworte Jesu, die der Gottesdienstleiter und zwei Lektorinnen gemeinsam sprechen. Es komme beim christlichen Glauben nicht darauf an, bestimmte festgelegte Formeln in einer festgelegten Reihenfolge zu sprechen, hat einmal der Vorgänger von Pastorin Hoeks gesagt. In einem Programmtext der Gemeinde heißt es: »Der Kern des religiösen Gefühls heißt: Wir wollen uns verbunden wissen mit uns selbst, mit den anderen und mit dem Leben.« Das Besondere sei, dass jede und jeder willkommen sei in der San-Salvator-Gemeinschaft, erklärt Hoeks. Ansonsten unterscheide man sich von der katholischen Kirche eher im Ausdruck als im Glauben. Aber, ergänzt sie erleichtert, daran müsse man sich jetzt nicht mehr abarbeiten. Der jahrzehntelange Konflikt mit der Kirche sei mit Gründung der eigenen Gemeinde vorbei gewesen.

Die Selbstständigkeit kostet Geld: Rund 90 000 Euro müssen die rund 400 Gemeindeglieder von San Salvator im Jahr aufbringen; sie bestimmen dabei die Höhe ihres Mitgliedsbeitrages selber. In Nijmegen ist es ein ähnlich hoher Beitrag, aber nur 180 zahlende Mitglieder; dort setzen sie auch auf Kulturförderung für bestimmte Projekte zur Finanzierung der Gemeinde. Hermann Häring sieht beim Geld einen weiteren Unterschied zu Deutschland: In den Niederlanden gebe es keine Kirchensteuer, die automatisch eingezogen werde, sondern die Kirchenmitglieder zahlten ihren Beitrag an die Gemeinde, die wiederum Geld an den Bischof abführe. Jedes Kirchenmitglied wüsste, wie viel er oder sie zahle, und würde damit viel bewusster umgehen, meint Häring.

 

Nun müsse man nichts mehr an den Bischof überweisen und keine teure Kirche unterhalten, erklärt Frans Langemeijer vom San-Salvator-Vorstand lächelnd. Auch dem Bistum wurde die große San-Salvator-Kirche, die in den 1950er-Jahren im Zentrum von Orthen gebaut worden war, zu teuer; sie wurde vor zwei Jahren verkauft. Heute beherbergt sie das »Gesundheitszentrum San Salvator«. »Ich gehe dort zu meiner Physiotherapie«, erzählt Franneke Hoeks. Wenigstens habe man den Namen der Kirche erhalten, meint sie etwas wehmütig darüber, dass die alte Kirche im Ortskern nicht mehr als Kirche genutzt wird. Hermann Häring sagt: Die kirchliche Entwicklung in den Niederlanden sei der in Deutschland meist um 15 bis 20 Jahre voraus. Über 40 selbstständige Gemeinden, die aus katholischer Tradition erwachsen sind, gibt es in den Niederlanden. Auch hierzulande werden schon Kirchgebäude zu Gesundheitszentren; und vielleicht finden bald auch lebendige selbstständige Gemeinden Unterschlupf in anderen Häusern der Stadt.

Dieser Text stammt von der Webseite https://www.publik-forum.de/Religion-Kirchen/ehrlich-und-frei-katholisch-sein des Internetauftritts von Publik-Forum

Und aus Publik Forum 2022 / Heft Nr. 10